7. April 1945:
Durch den Bomben-Matsch nach Roßtal
Flammen züngeln aus Wehrtürmen und Wehrgängen
Wir haben wieder eine grausame Nacht hinter uns. 70 Minuten lang regnete es Sprengbomben und Minen. Der am 6. April um 22 Uhr durchgeführte Angriff war wiederum dem „Rahmen des Nürnberger Spiegels“ gewidmet. Der Nürnberger Norden und Osten blieben fast schadlos. Als der Song der Britenbomber verstummt ist, stehen – wie so oft nach Angriffen – unter der Trauerweide, die von meinem Garten aus ihre Äste über den Gehsteig ausbreitet, eine Anzahl Männer. Sie meckern. Keiner genierte sich, das zu sagen, was ihn drückt.
Plötzlich polterten große Stiefel durch die Nacht. „Heil Hitler …“ meint der, der in ihnen steckt. Fast herausfordernd ist der Gruß. Gerade so herausfordernd aber ist eine Antwort: „Am …“ (wie sagte doch Götz von Berlichingen?) Und siehe da: Der hitlerinische Blockwart nimmt diese barsche Entgegnung wortlos entgegen.
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Anderntags sitze ich am frühen Morgen wieder im Fahrradsattel. Dreierlei habe ich vor: Zunächst will ich sehen was die Bomben angerichtet haben. Dann will ich zu meinem Schneider in Roßtal, weil ich fürchte, daß es bald kracht und Plündereien kommen und daß dabei mein Anzugstoff gestohlen wird. Und drittens weiß ich vom Londonsender, daß die Amerikaner bei Crailsheim stehen. Vielleicht erlebe ich da etwas für mein Tagebuch.
Nach dem Angriff der Nacht war ein ausgiebiger Regen niedergegangen. Es regnete auch früh um 7 Uhr noch tüchtig. In der seit Monaten nicht mehr gereinigten Bayreuther Straße und am Ring liegt der Dreck fast fußhoch. Schutt und Asche, Mörtelstaub, Schmutz, Papier und Unrat haben sich in eine dicke, klebrige Masse verwandelt. Brände und Rauchschwaden in der Bahnhofgegend beweisen, daß die Britenbomber krepierende und brennende Visitenkarten abgeworfen haben.
Aus den bisher noch unbeschädigt gebliebenen Wehrgängen und Wehrtürmen zwischen Marientor und Plärrer züngeln Flammen. In der nach Schweinau führenden Straße klaffen Bombenkrater. Das Sankt Leonhardskirchlein ist zerschlagen. Ein Strom Neu-Ausgebombter bewegt sich stadteinwärts. Sie geben ihrem Zorn über die Fortführung des schon verlorenen Krieges offen und sehr laut Ausdruck. Die Stimmung gleicht an diesem April-Morgen einem Pulverfaß. Ein zündender Funke würde genügen.
Ein alter Jugendfreund spricht mich an. Er hat immer fest ans Hitler-Regime geglaubt. Jetzt sagt er: „Diese Verbrecher, die elendiglichen…“ Damit meint er durchaus nicht die Britenbomber.
Ein ausgemergelter Landser ruft: „Und alles verdanken wir …!“ Ein ganzer Chorus entgegnet: „Unserem großen Führer …!“ Kein Mensch nimmt an diesem „Frevel“ Anstoß. Aber es tut sich weiter nichts.
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Draußen vor Stein überquert ein langer Menschen-Treck die Hauptstraße. Es sind französische Kriegsgefangene, die nach Süden „abgesetzt“ werden, ehe die Amerikaner kommen. Sie machen einen erbärmlichen Eindruck: Müde, total abgerissen, hohlwangig. Hitler-Jungen und DAF-Amtswalter bilden die Eskorte. Sie tragen Gewehre. Ansonsten sehen sie genau so abgerissen und ausgehungert aus wie die Eskortierten.
In noch viel elendsvollerem Zustand sind die ausgebombten westwärts flüchtenden Schweinauer Eingeborenen. Die Familien halten sich in Gruppen zusammen. Sie vermissen Familienangehörige, wissen nicht, ob sie tot oder auch unterwegs sind – irgendwohin. Totale Auflösung wie in der Kommune, so auch in den einzelnen Hausgemeinschaften.
Inzwischen ist es 10 Uhr geworden. Der Himmel hat sich aufgeklärt, es bricht sogar die Sonne durch. In Weißmannsdorf und den umliegenden Ortschaften heult man Alarm. Tiefflieger singen. Im nächsten Moment sieht man sie im flachen Land auch schon. Die Kraftwagen geben Gas, um das nächste Waldstück zu erreichen. Fußgänger und Radfahrer werfen sich in den Straßengraben. Ist dann die Gefahr weitergeflogen, dann wird weitergehumpelt, weitergetrampelt. Nach 200 Metern schon heißt es wieder absitzen und in den Straßengraben flitzen.
Hier gäbe es gute Gelegenheit für deutsche Jäger, Kriegslorbeer und Eichenlaub zu ernten. Aber im weiten Rund ist kein einziges Flugzeug mit Hakenkreuz sichtbar. „Unsere Luftwaffe ist beim Arsch!“ – stellt einer der Bombenflüchtlinge mit dem Brustton der Überzeugung fest.
Die Spitfires tummeln sich nach Herzenslust im Himmel über dem Biberttal. Manchmal machen sie aus Übermut MG-Radau. Scheinbar nur um ihre Munition loszubringen, die sie nicht wieder nach Hause fliegen wollen. Das Wild, das sie suchen, die Eisenbahnzüge und Lokomotiven, trauen sich nur noch zur Nachtzeit aus ihrem Bau.
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Es geht auf Mittag zu. Rot-Kreuz-Autos aus Richtung Ansbach flitzen gegen Nürnberg. Sicher Verwundete …! Es kommen auch verwundete Soldaten, die auf einem Bauernleiterwagen sitzen und erzählen, daß der Kraftwagen, der sie beförderte, von „Jabos“ beschossen wurde und jetzt draußen bei Heilsbronn im Straßengraben liegt.
Dann folgt ein größerer Trupp Soldaten. In Zugstärke vielleicht. Sie sind schlapp und müde. Der letzte Rest einer Marschordnung ist beim Teufel. Ein Teil kann nicht mehr mitmachen. Sie hauen ab. Die einen haben Gewehre, die anderen keine. Viele sind hemdärmlig und haben nur den Stahlhelm aufgestülpt, der sie als Soldaten kennzeichnet.
„Woher kommt Ihr?“ – Sie machen mit dem Kopf eine vielsagende Kopfbewegung nach hinten. „Die Ami kommen …! Bei Crailsheim geht es drunter und drüber …!“ Wer diese traurige Soldatengruppe sieht, weiß was es geschlagen hat: Mit Mann und Roß und Wagen …!
Ein Wegschild an der Straße sagt: „Drei Kilometer nach Roßtal …!“ Ich bin am Ziel. In Roßtal herrscht Aufregung. Männer und Frauen laufen durch die Straßen. Ein Waldbrand ist in der Nähe ausgebrochen, Hilfskräfte zum Löschen werden zusammengetrommelt.
Mein Anzug ist nur halbfertig. Die Schneidermeisterin packt mir die zugeschnittenen Teile ein. Der Meister selbst ist mit seinen 60 Jahren zum Volkssturm geholt worden. „Wozu noch dieses Kasperltheater?“ fragen die Roßtaler. Sie wissen, was geschlagen hat.
Nur einer weiß es nicht: Der Ortsgruppenleiter …! Er heißt … und ist sehr schlau. Das hat er bewiesen. Er ordnete an, daß die Ortschaft unter allen Umständen gehalten werden müßte und daß ein Hitlerjunge auf dem Kirchturm Ausschau halten und bei Annäherung der Amerikaner eine große Hakenkreuzfahne hissen müsse. „Dann hat sich der schlaue Fuchs“ – so erzählen die Roßtaler – „aufs Motorrad gesetzt und ist auf Nimmersehen davongefahren.“
Indes geht ein Volkssturmhäuptling, angetan mit brauner Uniform, Militärmantel und Zivilhut, von einem Roßtaler Haus zum anderen und holt die Volkssturmmänner zusammen. Sie müssen um 14 Uhr auf dem Plateau zum Schanzen antreten.
Ich suche inzwischen gute Freunde aus Nürnberg auf, die als Ausgebombte in Roßtal wohnen. Es gibt markenfreie Knackwürste und Erbsensuppe zum Mittagessen. Dann schalten wir („Bum-bum-bum-bum“) London ein und hören, daß bei Crailsheim schwere Kämpfe mit den Amerikanern im Gange sind.
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Punkt 14 Uhr ist wahrhaftig der Volkssturm angetreten. Die Männer heben Schützengräben aus. In richtigem Zeitlupentempo. „Hier soll wohl der Endsieg entschieden werden …?", frage ich sie. – Die Angesprochenen lachen laut auf: „Mit Schaufel und Spaten geht's nicht – aber wir wüßten schon ein Universalmittel …!“
„Und wie wollt Ihr das machen …?“ –
„So, wie der kleine Hans …! Wir brauchen nur ein paar Zentner Salz. Die würden wir dann – so wie es der Hans mit den Spatzen gemacht hat – den Panzern auf den Schwanz streuen, dann könnten sie nimmer schießen. – Aber leider …!
In ganz Roßtal kann man schon seit Wochen kein Pfund Salz mehr auftreiben. Deshalb können wir leider auch unserem großen Führer nicht mehr zum Endsieg verhelfen …!“
Eine reguläre deutsche Truppe zieht in Roßtal ein. Es sind prächtige Gestalten. Hochgewachsen, gut ausgerüstet. Ich sah solche Abteilungen schon bei der Fahrt nach Roßtal in verschiedenen Ortschaften. Man munkelte, daß es die sagenhafte Wlassow-Armee sei, die bei Crailsheim eingesetzt werden und das Kriegsglück wenden solle. Das war aber ein Irrtum. Die Truppe blieb nur einige Tage in der Gegend zwischen Nürnberg und Ansbach. Es war eine lettische SS-Formation, keiner unter 1,75 m groß. Das junge fränkische Weibsvolk hatte seine helle Freude an den prächtigen Soldatengestalten.
Die OKW-Berichte der letzten Tage meldeten vom fränkischen Kriegsschauplatz:
4. April 1945: Im östlichen Spessart und am Main beiderseits Würzburg wurde die Verteidigung gefestigt. Südlich Ochsenfurt wurde eine schwächere feindliche Panzergruppe zurückgeworfen.
5. April 1945: Am Main sind heftige Kämpfe in Würzburg im Gange. Marktbreit und Ochsenfurt wurden vom Feinde gesäubert. Im Gebiet südlich davon wurden die vordringenden Panzerspitzen des Gegners schwer angeschlagen und dabei 24 Panzer, 20 gepanzerte Fahrzeuge und 25 Lastkraftwagen vernichtet.
6. April 1945: Südöstlich von Würzburg erwehren sich unsere Truppen überall des vordringenden Feindes.
Quelle: Nadler, Fritz: "Ich sah wie Nürnberg unterging…!", Nürnberg 1955, S. 77–80